Die Metapher der unsichtbaren Hand wurde von Adam Smith in seinem Werk „Der Wohlstand der Nationen“ formuliert. Er umschreibt damit, dass sich das Allgemeinwohl automatisch einstellt, wenn sich die einzelnen Menschen „nur“ um ihr eigenes Wohl kümmern. Gerechtigkeit durch Egoismus.
Diesem Ökowodoo hat schon der Philosoph G.W.F. Hegel eine Absage erteilt. Ohne Rücksichtnahme der Interessen der anderen führt der Eigennutzen zum Auseinanderdriften der Schere zwischen Arm und Reich. Daher muss der Staat den Markt regulieren.
Welche negativen Auswirkungen das freie Spiel von Angebot und Nachfrage für die Bevölkerung haben kann, ist an der Entwicklung des Strompreises zu sehen. Der Preis an der Börse wird nach dem Merit-Order-Prinzip ermittelt. Das teuerste Gebot – im Regelfall Strom aus einem Gaskraftwerk – bestimmt den Preis. Davon profitieren auch alle anderen Kraftwerke. Bis jetzt war für die exorbitante Strompreissteigerung Putin der Schuldige. Er verknappt das Angebot an Gas und das wirkt sich aufgrund des Preisfestsetzungsmechanismus auf den Strompreis aus. Ist das die ganze Wahrheit? Nein!
Wer die Future-Preise für das 4. Quartal 2022 an der Börse (European Energy Exchange AG; EEX) beobachtet, stellt fest, dass diese für das Gas Euro 328,00/MWh und für den Strom Euro 920,00/MWh (bei Einstandskosten von Euro 35,00/MWh für Strom aus Wasserkraftwerken; „It’s the economy, stupid!“) betrugen. Diese Preise passen nicht in das Erklärungsmuster der Merit-Order-Apologeten, weil plötzlich der Strompreis über dem Gaspreis liegt.
Aber was ist die Ursache dieser Anomalie? Analysiert man die Abläufe an der Börse, zeigt sich folgendes Bild: Bis zum Ukrainekrieg gab es durchschnittlich zehn Transaktionen, bis der Strom vom Lieferanten an den Kunden geliefert wurde. Jetzt hat sich die Zahl auf durchschnittlich 100 Transaktionen erhöht. Unsichtbare Hände (Profi-Trader) die sich um ihr eigenes Wohl kümmern, treiben mit ihren Spekulationen den Strompreis in die Höhe und profitieren von einer Politik, die einem solchen Tun tatenlos zuschaut. Die Kehrseite der Medaille ist, dass ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung nicht mehr weiß, wie sie das Leben bewältigen kann.
Wie lautet der Vorwurf gegenüber der Politik? Sie bekämpft nicht die Ursache, sondern versucht die Symptome zu lindern. Das erinnert an die Fabel vom Hasen und dem Igel. Was immer der Hase (Politik) unternimmt, der Igel (Spekulant) ist schon längst am Ziel. Kein Betriebsunfall, sondern das Ergebnis der Lobbyarbeit der Konzerne in Brüssel.
Kann man gegen diese Auswüchse des Finanzkapitalismus etwas unternehmen? Ja, wenn man möchte. Es wäre für die Politik ein Leichtes, den Partycrasher zu spielen. Man müsste nur für die Future Transaktionen eine Mindestbehaltedauer einführen. Das würde schlagartig die Spielwiese der Spekulanten austrocknen. Eine Cooling-Off-Periode für die Profi-Trader. Als zusätzlichen Sand für das (Börsen-) Getriebe könnte man eine Stromtransaktionssteuer auf Derivate einführen.
Diese regulatorischen Eingriffe würden sofort zu einer Entspannung der Verhältnisse am Strommarkt führen und eigenen sich auch als Blaupause für alle Märkte, auf denen Waren, die die Grundbedürfnisse decken, gehandelt werden. Den Stecker ziehen, um den Strom der Gewinne zu reduzieren. Wohin die „It’s mine“ Philosophie der Börsenzocker führt, zeigt die Entwicklung des Energiepreises: Voriges Jahr kostete 1 kW für die Haushaltskunden Euro 0,15. Jetzt signalisiert der Future Markt eine Steigerung auf 1 Euro/kW.
Der Treppenwitz dieser Entwicklung ist, dass Putin genau auf diese Spekulanten setzt. Sein Influencer dürfte Karl Marx sein, der schon prophezeit hat, dass sich der Kapitalismus selbst zerstört. Ohne einen Kurswechsel ist die EU auf dem besten Weg dieser Vorhersage zu entsprechen.
Die Politik muss die Spielregeln der Liberalisierung für lebensnotwendige Güter neu definieren. Sie darf nicht zusehen, dass sich einige wenige am Leiden der Mehrheit bereichern. Jetzt bietet sich die Chance, das Märchen der unsichtbaren Hand auf dem Friedhof der Ökonomie zu entsorgen. Regulierung anstatt naive Marktgläubigkeit.