Die Rolle der EU im Wettstreit der Mächte

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben im Jahr 2000 in Lissabon den Beschluss gefasst, die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Tatsächlich haben die USA und Asien Europa schon längst überholt. Dazu beigetragen hat auch die Sanktionspolitik gegenüber Russland. Anstatt dass die EU als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt mit Russland als dem flächenmäßig größten und rohstoffreichsten Land der Erde kooperiert, verfolgt sie die Linie der Amerikaner, und zwar ohne Wenn und Aber.

Amerika agiert nach wie vor nach dem Motto „America First“ und sucht dafür Verbündete. China verfolgt eine strategische Europapolitik und arbeitet eng mit Russland zusammen.

So liegt es beispielhaft im Interesse der Amerikaner, dass die Gaspipeline Nordstream 2 nicht fertig gestellt wird. Anstelle einer Gasversorgung aus Russland soll Europa lieber das viel teurere und umweltschädlichere Flüssiggas aus den USA importieren.

China tritt als ökonomischer Retter vieler europäischer Regierungen im Osten und Süden des Kontinents auf. Dass dabei strategische Infrastrukturen, wie beispielhaft der Hafen von Piräus, neue Eigentümer bekommt, ist die logische Folge des Anspruchs des Reichs der Mitte, nämlich bis spätestens 2025 weltweit die Führungsmacht zu übernehmen.

Und welche globale Strategie verfolgt die EU? Keine nachvollziehbare! Die Pandemie hat die Abhängigkeit vor allem von Asien aufgezeigt. Humanistische Werte spielen dabei keine Rolle. So wird die Unterdrückung der Uiguren – Umerziehungslager für Millionen Menschen einer Volksgruppe – zwar angesprochen, jedoch ohne ernsthafte Konsequenz. Wie elastisch die rote Linie der EU bei Wahrung ihrer Werte ist, zeigt sich auch bei der unterschiedlichen Behandlung von kriminellen Tatvorwürfen: Die bestialische Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi, welche nur mit Genehmigung durch den Kronprinzen Mohammed bin Salman erfolgen konnte, bleibt ohne Konsequenz. Ganz anders schaut die Sache beim russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aus: Obgleich diesbezüglich keine Beweise vorliegen, wird der Kreml Chef vom amerikanischen Präsidenten als Mörder beschimpft; Sanktionen inklusive.

Würde die EU ihre Lissabon-Ziele ernst nehmen, müsste sie folgende Schritte umsetzen:

  • Abschluss eines bilateralen Investitions- und Handelsabkommens mit Russland. Eine wirtschaftliche Integration würde die Gleichheit im Kampf der Mächtigen wiederherstellen. Der größte und rohstoffreichste Wirtschaftsraum der Welt könnte aufgrund seiner Stärke Konjunkturimpulse selbst generieren. Der bilaterale Handelsaustausch wäre beträchtlich.
  • Einführung einer Grenzsteuer zum Klimaschutz für Importe aus Asien. Wenn Unternehmen aus Kostengründen in Ländern ohne Auflagen oder Steuern für das Klima produzieren, sollen sie dafür bezahlen, sobald sie ihre Waren nach Europa exportieren.
  • Einhaltung von sozialen und arbeitsrechtlichen Mindeststandards (Produktverfolgungsgesetz).
  • Europa First! Europa muss seine eigenen wirtschaftlichen und strategischen Interessen verfolgen, die nicht zwangsläufig mit jenen des transatlantischen Bündnispartners übereinstimmen.

Die Pandemie hat die Schwächen des Selbstbildnisses Europas offengelegt. Will die Union nicht zwischen China und den USA aufgerieben werden, muss sie zukünftig ihre Rolle in der multipolaren Welt neu definieren. Und dabei spielt der zukünftige Umgang mit Russland eine wesentliche Rolle. Das muss man dem neuen US-Präsidenten anlässlich seines gegenwärtigen Besuchs in Europa klar und deutlich sagen.